echo interview mit Andreas Dummermuth
echo-Interview, Februar 2017

Kapitalbezüge aus der 2. Säule ritzen die Bundesverfassung

ELIPSLIFE ECHO - EINE GESPRÄCHSSERIE MIT PERSÖNLICHKEITEN AUS DER WIRTSCHAFT

Kapitalbezüge aus der 2. Säule ritzen die Bundesverfassung

echo-interview mit Andreas Dummermuth, Geschäftsleiter Ausgleichskasse/IV-Stelle Schwyz und Präsident der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen

elipsLife echo: In einer kürzlich veröffentlichten Studie rechnet die OECD vor, dass in den Altersvorsorgesystemen ihrer Mitgliedsländer insgesamt 78 Bio. USD fehlen. Wie sieht es in der Schweiz aus?

Andreas Dummermuth: Die Frage lässt sich so nicht beantworten. Sozialversicherungen wurden geschaffen, um Leistungsversprechen für die Zukunft zu machen. Sozialversicherer erfassen aus buchhalterischer Sicht jedoch keine Leistungen, die in der Zukunft anfallen. Ein historisches Beispiel: Im Jahr 1532 wurde im deutschen Goslar der Büchsenpfennig für Grubenarbeiter eingeführt. Jeder Kumpel musste einen Pfennig in die Büchse werfen, bevor er in die Grube einfahren durfte, um die Risiken Tod, Unfall und Invalidität abzufedern. Trat eines der Risiken ein, wurde die Kasse gebraucht. Schon damals hatte man kein individuell kalkulierbares Risiko, das in die Zukunft hineinprojiziert werden konnte. Deshalb sind diese fehlenden 78 Bio. USD im Umlageverfahren eine buchhalterische Fiktion. Sozialversicherungen sind heute eine obligatorische Sicherung und die Gesellschaft will, dass die Risiken Tod, Unfall und Invalidität abgesichert sind – genau wie damals in Goslar.

In der gleichen Studie steht, dass viele Länder beim Ausbau ihrer kapitalgedeckten Systeme grosse Fortschritte erzielt haben. Sehen Sie die Notwendigkeit, die kapitalgedeckten Systeme auszubauen?

Die Empfehlung der OECD stimmt für Staaten wie Deutschland, Frankreich und Italien, die primär umlagefinanzierte Altersvorsorgen haben. Sie trifft aber nicht für die Schweiz zu, weil wir das 3-Säulen-System haben. Mit der umlagefinanzierten AHV als 1. Säule, der kapitalgedeckten beruflichen Vorsorge als 2. Säule und der privaten Vorsorge als 3. Säule ist die Empfehlung der OECD in der Schweiz seit längerem umgesetzt. Zusätzlichen Handlungsbedarf sehe ich nicht. 

echo mit Andreas Dummermuth

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen für die berufliche Vorsorge?

Im demographischen Wandel und in der Langlebigkeit. Das sind die zwei grössten Probleme sowohl der 1. als auch der 2. Säule. In der 2. Säule besteht überdies eine enorme Kapitalakkumulation, was für mich ein Grund ist, diese nicht noch auszubauen. Wir haben dort rund 125% des Bruttoinlandprodukts, also 1¼ des gesamten Jahreseinkommens der Schweiz als Reservekapital. Zudem zeigt sich im Kapitaldeckungsverfahren das Problem mit dem dritten Beitragszahler, dem Kapitalertrag. Das weltweite Bunkern von immer mehr Geld in der 2. Säule macht das Geld immer billiger und der Zins sinkt weiter. Vor diesem Hintergrund erachte ich den Ausbau der 2. Säule in der Schweiz als nicht sinnvoll, denn „more of the same“ verbessert in diesem Fall nicht das System, sondern erhöht die Risiken.

Haben Rentensysteme, die wie die AHV auf der Ausrichtung fixer Rentenbeträge basieren, langfristig überhaupt noch eine Chance?

Ja, denn ein auf dem Umlageverfahren basierendes Rentensystem ist hoch stabil. Die AHV hat sich in ihren bisherigen 69 Jahren bestens bewährt. Wir hören immer, die sinkende Zahl von Arbeitenden pro Rentner – 1948 waren es noch 6,5, 2035 werden es noch 2,1 sein – würde die AHV existenziell bedrohen. Doch die Frage nach der Anzahl Aktiver pro Rentner ist nicht relevant, entscheidend sind vielmehr die Beiträge, die ins System fliessen. Wenn eine Wirtschaft funktioniert und wächst, werden über das Umlageverfahren genügend Finanzmittel eingenommen. Zentraler Punkt ist, dass unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft eine flexible und stabile Alterssicherung wollen. Eine Vorsorge auch, welche die Wirtschaft kontinuierlich, nicht sprunghaft belastet. Das haben wir erreicht: Der aktuelle Beitragssatz für die AHV beträgt 8,4 Lohnprozente – und gilt seit dem 1. Juli 1975! Einzig 1999 ist ein Mehrwertsteuerprozent dazugekommen. Seit 42 Jahren funktioniert die AHV mit dem gleichen Beitragssatz, Beweis genug für die Zuverlässigkeit des Systems.

Andreas Dummermuth über die Heruasforderungen in der Vorsorge

Demografie, Langlebigkeit und Tiefzinsumfeld setzen die Sozialversicherungen unter Druck. Was ist zu tun, damit das System nicht aus dem Lot kippt?

Ein Rentensystem lässt sich über drei Parameter stabil halten. Rentensenkungen, Erhöhung des Rentenalters oder Prämienerhöhungen. Weil unsere Bundesverfassung existenzsichernde Renten garantiert, sind Rentensenkungen politisch tabu. Die Erhöhung des Rentenalters ist hingegen ein absolut sinnvoller und machbarer Weg. Die Schweiz hat das teuerste Gesundheitswesen in Europa und die Gegenleistung zu unseren sehr hohen Krankenkassenprämien ist eine sehr hohe Lebenserwartung. Unser Gesundheitssystem generiert Alter, sorgt aber gleichzeitig dafür, dass wir mit 65 nicht ausgepowert sein müssen und deshalb länger arbeiten können. In Bezug auf die Prämienerhöhung ist klar, dass eine Erhöhung der Mehrwertsteuerprozente volkswirtschaftlich sinnvoller ist als eine Erhöhung der Lohnprozente, weil sie nicht nur die Berufstätigen, sondern die ganze Bevölkerung trifft.

Und welche dieser drei Möglichkeiten ziehen Sie vor?

Umfragen zeigen, dass die Schweizer Bevölkerung klar für die Prämienerhöhung votiert. Die Altersvorsorge 2020 schlägt übrigens eine Mischung der drei Parameter vor: die Erhöhung des Rentenalters für Frauen von 64 auf 65 Jahre, eine Zusatzfinanzierung über die Mehrwertsteuer und eine Rentensenkung durch einen tieferen Umwandlungssatz in der 2. Säule.

Gibt es nebst der Erhöhung der Lohnabzüge oder der Mehrwertsteuer noch andere Finanzierungsmöglichkeiten?

Ich sehe die Gefahr einer Verschiebung von der 2. zur 3. Säule. Firmen könnten zum Schluss kommen, zukünftig die 2. Säule im überobligatorischen Bereich nicht mehr grosszügig zu unterstützen und Einkommen von zum Beispiel über 150‘000 Franken nicht mehr mitzufinanzieren. Arbeitnehmende müssten sich stärker privat über die 3. Säule absichern. Dies käme einem eigentlichen Risiko-„Shifting“ gleich: der Arbeitgeber überträgt Teile des Risikos Alter, insbesondere das Langlebigkeitsrisiko, seinen Angestellten.

Andreas Dummermuth über die beruflichen Vorsorge

Hat die AHV bislang nur dank der Migration, also dank des Zuzugs neuer Beitragszahler, so gut überlebt?

Die Grundlage des Erfolgs der AHV ist die gut funktionierende Wirtschaft. Läuft die Wirtschaft rund, haben viele Leute Arbeit. Und weil alle Arbeitnehmenden AHV-Beiträge bezahlen, verzeichnen wir durch eine steigende Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen, von jungen Secondos oder auch von über 65-jährigen Personen ständig höhere Beitragszahlungen. Die Schweiz ist ein Job-Wunder – und damit die Wirtschaft gut läuft, braucht sie Fach- und Hilfskräfte, die sie auch aus dem Ausland holt. Die gut funktionierende Wirtschaft konnte bis anhin die demografische Belastung bei einem konstanten Beitragssatz abfedern. Würde nun aber die Wirtschaft kollabieren – steigende Arbeitslosigkeit, Exodus ausländischer Fachkräfte, Lohndumping etc. – , würde die AHV in einen doppelten Abgrund gerissen: Erstens würden die Beiträge einbrechen, zweitens käme die belastende demografische Entwicklung viel stärker zum Tragen.

Also ist die Sozialversicherung von der Wirtschaft abhängig?

Ja, massiv! Wirtschaft und Sozialversicherung stehen in einer engen, wechselseitigen Beziehung. Es ist die Aufgabe der Sozialversicherung, einer hochdynamischen Gesellschaft und einer leistungsfähigen Wirtschaft die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg zu bieten. Wirtschaft und Sozialversicherung lassen sich nicht mehr trennen. Würden alle Ausgleichskassen, Pensionskassen, Krankenkassen, Unfallversicherungskassen und Arbeitslosenversicherungskassen keine Zahlungen mehr tätigen, wäre die Schweiz innert eines Monats lahm gelegt.

Um den verschiedenen Herausforderungen zu begegnen, gibt es bekanntlich viele Ansätze. Was geschieht, wenn die Politik allgemein Leistungskürzungen bei der AHV beschliesst?

Will die Politik Leistungskürzungen in der AHV beschliessen, läuft dies formal über eine Änderung des AHV-Gesetzes, was dem fakultativen Referendum unterliegt. Es steht ausser Frage, dass ein solches ergriffen und die Leistungskürzung in der Abstimmung abgeschmettert würde. Politisch ist eine Leistungskürzung chancenlos. Die Leute wollen Sicherheit. Möglich ist einzig die gezielte Kürzung von heute unnötigen Leistungen, z.B. der hohen Zusatzrenten an AHV-Rentner für ihre Kinder.

Welche Rolle spielen die Ergänzungsleistungen im Vorsorgesystem?

Die Ergänzungsleistungen zu AHV und IV (EL) wurden 1966 eingeführt. Sie bilden eine Grundsicherung nach unten und sollen die Existenz aller Rentner sicherstellen. Sie schliessen die Lücke, wenn Rentner aufgrund der Leistungen aller anderen Sozialversicherungen ein definiertes Einkommensminimum nicht erreichen. So garantiert z.B. der Kanton Schwyz aktuell 37‘230 Franken als Minimum für einen AHV-Rentner. Obwohl über die Jahre die AHV und die 2. Säule stetig ausgebaut wurden, sind die aktuellen Ausgaben für die EL erschreckend hoch. Mit rund 5 Milliarden Franken entsprechen sie ungefähr dem Verteidigungsbudget der Schweiz – Tendenz steigend.

Wie konnte es angesichts des gut ausgebauten 3-Säulen-Systems dazu kommen?

Die Ausgabenexplosion bei den EL hat verschiedene Gründe wie Langlebigkeit, höhere Pflegetaxen, politisch gewollter Leistungsausbau oder die hohe Privilegierung von Vermögen. So ist es im Kanton Schwyz möglich, mit einem steuerbaren Vermögen von 1 Million Franken noch EL zu beziehen, wenn denn das ausgewiesene Einkommen genügend tief ist. Eine wichtige Ursache ist in der 2. Säule auch der verbreitete Kapitalbezug anstelle einer Rente. Wir haben festgestellt, dass 2015 im Kanton Schwyz 44% aller Ergänzungsleistungsbezüger zuvor aus der 2. Säule Kapital bezogen hatten. Schweizweit waren es übrigens gut 33%.

Kann nicht jede Person mit ihrem Geld machen, was sie will?

Grundsätzlich ja, allerdings wurde die 2. Säule geschaffen, um langfristig einen gesicherten Ruhestand zu ermöglichen. Für diesen Zweck beteiligt sich der Arbeitgeber obligatorisch an den Beiträgen und verzichtet ebenfalls obligatorisch der Staat über die reduzierte Steuerbelastung auf Einnahmen. Wird dann das Kapital aber bezogen und nicht zur Existenzsicherung, sondern zum Beispiel für einen luxuriösen Lebensstil verbraucht, verpufft der gewünschte Effekt. Der Vorsorgezweck wird nicht erfüllt. Kapitalbezüge aus der 2. Säule ritzen aus meiner Sicht klar die Bundesverfassung.

Was kann man gegen die Kostenexplosion bei den Ergänzungsleistungen konkret tun?

In der nächsten Revision zum Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen muss das Parlament über allfällige Einschränkungen entscheiden. Sinnvoll ist eine Verengung des Zugangs zu den EL und nicht ein blosses Sparen bei den Eckwerten.

Andreas Dummermuth über die beruflichen Vorsorge

Sie sind auch gegen Kapitalbezüge für den Erwerb von Wohneigentum?

Das könnte die Ausnahme sein, welche die Regel bestätigt. Denn die Bundesverfassung enthält ja auch den Auftrag zur Wohnbauförderung. Wir müssen sicherstellen, dass jene, die wirklich EL brauchen, keine Leistungskürzungen erleiden. Es kann aber nicht sein, die ELzu einem steuerfinanzierten Auffangsystem für den Mittelstand und Menschen mit einem hohen Vermögen verkommen zu lassen. Das ist absurd.

Was erwarten Sie von einer flexiblen Festsetzung des Rentenalters?

Die von der Altersreform 2020 vorgesehene Flexibilisierung und Individualisierung empfinde ich als sehr wichtig, die Leute wollen das. In der Sozialversicherung, sei dies in der 1. oder der 2. Säule, müssen wir uns mit diesen Themen intensiv auseinandersetzen – auch wenn sie administrativ aufwändig sind. Kommt hinzu, dass eine gelebte Flexibilisierung zwischen 62 und 70 wohl die beste Voraussetzung dafür ist, das ordentliche Rentenalter schrittweise anzuheben.

Sollen aus Ihrer Sicht die Rentenbezüger an der Sanierung des Vorsorgesystems beteiligt werden – oder sind einmal erworbene Rentenansprüche tabu?

Rentenansprüche sind nicht tabu. Wenn die Volkswirtschaft kollabiert, dann muss das auch Auswirkungen auf die Renten haben. Aber das ist reine Fiktion. Hier und heute haben wir Kontinuität. Bei der AHV werden die Renten alle zwei Jahre der Lohn- und Preisentwicklung angepasst. Auf den 1.1.17 gab es keine Anpassung, weil Löhne und Preise nicht gestiegen sind.

„Wenn ich ins Rentenalter komme, werde ich weder von der AHV noch von meiner PK Geld sehen“, hört man oft. Wie kann das Vertrauen der Bevölkerung in unsere Vorsorgesysteme gestärkt werden?

Da habe ich eine andere Wahrnehmung. Ich stelle fest, dass unsere Bevölkerung ein grosses Vertrauen insbesondere in die AHV hat. Den Satz in Ihrer Frage kennen wir übrigens seit 1947, als er im Abstimmungskampf gegen die Einführung der AHV verwendet wurde. Wir beweisen aber der Schweizer Bevölkerung jeden Monat, dass das System gut funktioniert.

Zur Person
Andreas Dummermuth
Geschäftsleiter Ausgleichskasse/IV-Stelle Schwyz und Präsident der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen

Andreas Dummermuth, 1961, Goldau/SZ, schloss sein Studium an der Universität Zürich als lic. iur. ab. Später erlangte er am Institut de Hautes Etudes en Administration Publique in Lausanne den Master of Public Administration. Seine berufliche Karriere startete er am Kantonsgericht Schwyz, später wechselte er in den Rechtsdienst des Erziehungsdepartements Schwyz. Danach war er 13 Jahre als Direktor der Ausgleichskasse/IV-Stelle Nidwalden tätig, bevor er 2007 als Geschäftsleiter zur Ausgleichskasse/IV-Stelle Schwyz kam. Dummermuth ist auch Präsident der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen (Branchenverband der 1. Säule).

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