picture showing Ruth Humbel and Hans Köchli in a discussion
echo-Interview, Februar 2021

Der Umwandlungssatz ist ein politisches Pfand

ELIPSLIFE ECHO - EINE GESPRÄCHSSERIE MIT PERSÖNLICHKEITEN AUS WIRTSCHAFT UND POLITIK

echo-Interview mit Ständerat Hans Stöckli, SP, BE, und Nationalrätin Ruth Humbel, CVP, AG

elipsLife echo-Interview mit Ständerat Hans Stöckli, SP, BE, und Nationalrätin Ruth Humbel, CVP, AG

elipsLife echo: Die Altersvorsorge steht seit langem weit oben auf dem Sorgenbarometer der Bevölkerung, zurzeit nur verdrängt durch COVID-19. Trotzdem schiebt der Ständerat die Beratung der AHV-Revision auf die lange Bank. Herr Stöckli, nehmen Sie die Sorgen der Wählerinnen und Wähler nicht ernst?

Hans Stöckli: Weil wir diese Sorgen sehr ernst nehmen, suchen wir eine mehrheitsfähige Lösung. Ein nochmaliges Scheitern einer AHV- oder BVG-Vorlage würde die Situation weiter verschlechtern. Die Gegner der Vorlage AV2020 im Jahr 2017 behaupteten, dass eine neue AHV-Reform locker über die Bühne gehen würde. Doch rasch zeigte sich, dass der Teufel im Detail steckt.

Ruth Humbel: Hans Stöckli und ich haben 2017 für die Vorlage AV2020 gekämpft. Damals spielten das Referenzrentenalter 65 für Mann und Frau sowie die Abfederungen insbesondere für Frauen mit unteren Einkommen entscheidende Rollen. Hätten sich alle Ständeräte seriös in die «alten» Akten vertieft, wären seither keine neuen Berichte und Berechnungen nötig geworden. Es hätte gereicht, die Unterlagen zur AV2020 zu aktualisieren und mit den neuen Elementen der Zusatzfinanzierung über die Steuerreform und AHV-Finanzierung (STAF)* zu ergänzen, um die neue AHV-Vorlage auf die Beine zu stellen. 

Stöckli: Ich bedaure noch immer, dass wir die AV2020 nicht durchgebracht haben. Heute sind wir bei vielen Paramatern wieder in ähnlichen Bereichen wie damals, allerdings sind auch neue Gedanken aufgekommen, besonders zu den Ausgleichsmechanismen. Meine Seite wird einer Erhöhung des Rentenalters für Frauen nie zustimmen, wenn nicht substanzielle Ausgleichsmassnahmen gewährt werden. 



Seit Jahren herrscht bei der Altersvorsorge eine politische Blockade. Herr Stöckli, betreibt die Linke Verweigerungspolitik?

Stöckli: Die Linke hatte bisher mit Ausnahme der Vorlage AV2020 das Volk in Vorsorgefragen immer hinter sich. Ausserdem wird das Scheitern der AV2020 unterschiedlich interpretiert. Die einen sehen den Zuschlag von 70 Franken, die anderen die Angleichung des Frauenrentenalters als Grund. Wir sind daher gut beraten, diese Punkte nochmals durchzudenken und solide Mehrheiten zu suchen. 

Humbel: Das grosse Problem der Vorlage AV2020 war die Fundamentalopposition seitens SVP und FDP und das Referendum von ganz Links.

Stöckli: Ja, das ist richtig. Die Jusos waren uns mit ihrem Referendum keine grosse Hilfe, diplomatisch gesagt. In der STAF-Abstimmung konnten wir dann die Mehrheit holen. Tatsache aber ist: Bei der Erhöhung des Rentenalters für Frauen gibt es heute auf der linken Seite einen harten Kern, der unter keinen Umständen mitmacht. 

picture showing Hans Stöckli

Stichwort Rentenalter: Der Bundesrat will das Rentenalter für Frauen auf 65 Jahre erhöhen. Finden Sie das gut, Frau Humbel?

Humbel:
Ja, sicher. Angesichts der demographischen Entwicklung, der höheren Lebenserwartung und des besseren Gesundheitsstandards ist die Erhöhung des Rentenalters auf 65 richtig. Gleichzeitig sehe ich aber, dass in der 2. Säule Verbesserungen für Frauen mit tiefem Einkommen geschaffen werden müssen. Ich habe mich beispielsweise bereits in der Altersvorsorge 2020 dafür eingesetzt, dass mehrere Teilzeitstellen für’s BVG zusammen berücksichtig werden müssen. Die Frage «gleiches Einkommen für gleiche Arbeit» ist losgekoppelt vom Rentenalter zu lösen.  


Einverstanden, Herr Stöckli?

Stöckli:
Ich bin froh, dass Frau Humbel die Notwendigkeit für Korrekturmassnahmen in der 2. Säule auch sieht. Tatsächlich haben wir immer noch eine unerklärte Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen. Die Erhöhung des Frauenrentenalters ist praktisch die einzige vorgeschlagene AHV-Sparmassnahme. Ohne gerechte Kompensation geht das nicht. Dieser komplexe Hintergrund erklärt, weshalb die Kommission noch mehr Zeit braucht, um neue Modelle auszuarbeiten. 


Wie hoch muss das Rentenalter sein, damit AHV und Pensionskassen langfristig auf solidem Fundament stehen? 

Humbel:
Diese Frage kann nicht isoliert beantwortet werden. Entscheidend ist das wirtschaftliche Umfeld, wobei die aktuelle Situation wegen der Pandemie problematisch ist. Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um Fragen zur Erhöhung des Rentenalters zu diskutieren. Ich bin für eine Erhöhung, aber Voraussetzung ist, dass die Leute das Vertrauen haben, länger arbeiten zu können. Es nützt nichts, sukzessive Rentenalterserhöhungen festzulegen, wenn gleichzeitig die über 50-Jährigen ihre Stelle verlieren und keine Chance haben, je eine neue zu finden. 

Stöckli:
Ich bin mit Frau Humbel absolut einverstanden. Wir dürfen zudem nicht vergessen, dass ein Drittel aller Berufstätigen vorzeitig, also vor dem regulären Pensionsalter und der AHV-Berechtigung, in Pension geht. Aufgeschoben werden Pensionierung und AHV-Rente dagegen selten. 

 

Wie stellen Sie sich zur Initiative der Jungfreisinnigen „Rentenalter 66 für alle“ – ein Vorstoss, der das zukünftige Rentenalter ja an die Lebenserwartung koppeln will? 

Stöckli: Ich kann das nicht unterstützen. Das entspricht nicht unserer Kultur, weil es Sachen verknüpft, die nicht miteinander verknüpft werden können. Welches Durchschnittsalter soll man denn nehmen? Das von Theologen oder Professoren, die meines Wissens statistisch am längsten leben. Oder jenes von Wirten oder Bauarbeitern, die eine markant kürzere Lebenserwartung aufweisen? 

Humbel: Wir müssen differenzieren. Wer im Alter von 20 Jahren zu arbeiten beginnt und 44 Jahre bis zum Alter 64 oder 65 arbeitet, ist in einer anderen Situation, als jemand, der bis 30 studiert und erst dann in die 2. Säule einzuzahlen beginnt. Die Einzahlungsdauer muss berücksichtigt werden können. Die Rentenberechtigung könnte auch in der 2. Säule, gerade bei tiefen Einkommen, an die Beitragsjahre gekoppelt werden. Zudem müsst die Möglichkeit bestehen, spezifische Branchenlösungen zu finden. So, wie das heute für das Baugewerbe bereits der Fall ist.

picture showing Ruth Humbel

Der Bundesrat will die 2. Säule mit tieferem Umwandlungssatz und Kompensation der Rentenausfälle via Lohnprozente sanieren. Viele lehnen die Umverteilung in der 2. Säule als systemfremd ab. Hat die bundesrätliche BVG-Vorlage im Parlament eine Chance? 

Humbel: In der vorliegenden Form nein. Dieser Vorschlag basiert zwar auf der Lösung der Sozialpartner, aber im Parlament sind von der Arbeitgeberseite alle dagegen. Kaum eine Branche steht hinter der Vorlage. Auch aus meiner Sicht ist die Umverteilung von 200 Franken an alle, auch an gut Situierte, welche durch die Reform nicht tangiert sind, ziemlich daneben. Damit würde auf ewige Zeiten ein Umlageelement in die 2. Säule eingebaut. Es geht vielmehr darum, die bereits existierende Umverteilung in der 2. Säule – jene von der aktiven Generation zu den Rentnerinnen und Rentnern – endlich zu stoppen und nicht noch zu erhöhen. 

Stöckli: Ich bin in dieser Frage unverkrampft. Es braucht eine mehrheitsfähige Lösung, die korrekt und gerecht ist. Mir scheint die Vermischung von Grundsätzen der 1. und 2. Säule mit der Solidarität der Ausgleichsleistungen nicht wildfremd. Der Vorschlag von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite ist ein Kompromiss – und in der Vernehmlassung ist weit und breit keine andere kompromissfähige Lösung aufgetaucht. Ein Modell, das beispielsweise auf einen Umwandlungssatz von 5,8% zielt, hat keine Chance. Ein solcher Abbau würde von der Bevölkerung nie akzeptiert. 

Humbel: Bezüglich Umwandlungssatz bin ich einverstanden. Dieser kann aus politischen Gründen nicht unter 6% liegen, auch wenn es aus sachlich-fachlicher Sicht richtig wäre. 

Stöckli: Wir müssen der Bevölkerung aufzeigen, welchen Einfluss eine Lösung auf ihre Situation hat. Müssen die Bürger mehr bezahlen, bekommen aber weniger zurück, so verstehe ich, dass sie dem nicht begeistert zustimmen wollen. Deshalb: Die Lösung der Arbeitgeber-Arbeitnehmergruppe ist mutig, kreativ und sicher keine Lösung aus dem Tierbuch. Solange kein besserer Vorschlag auf dem Tisch liegt, sehe ich keinen Grund, warum man nicht mit diesem Kompromiss weiterarbeiten sollte.

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Solidarität ist ein gutes Stichwort: Sind angesichts der Corona-Krise Rentenbezüger an der Sanierung der 2. Säule zu beteiligen oder sind einmal erworbene Rentenansprüche tabu?

Humbel: Renten sind erworbene Rechte, es geht um Treu und Glauben. Wenn wir beginnen, gesprochene Renten zu kürzen, verstossen wir gegen diese Grundsätze. Ich möchte die Rentnerinnen und Rentner überzeugen, mit den Jungen einer Vorlage zuzustimmen, die langfristig Perspektiven aufzeigt. Heute werden gemäss Vorsorgeforum jährlich CHF 7,2 Milliarden umverteilt. Rentnerinnen und Rentner bekommen Geld, das sie nicht selbst einbezahlt haben, sondern das von den Jungen gesponsert wird. Das ist den Rentnern bewusst zu machen und sie sind davon zu überzeugen, dass wir eine Lösung brauchen, die auch ihren Enkeln nicht schadet. 

Stöckli: Klug und korrekt ist, den Sanierungsbeitrag der Rentnerinnen und Rentner auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer zu beschränken. Im Rahmen dieser Steuer müssen auch sie ihren Beitrag leisten. An wohlerworbenen Rechten zu rütteln geht nicht. 



Die Corona-Krise wird sich bestimmt auf die Altersvorsorge auswirken. Lassen sich bereits Konsequenzen erahnen?

Humbel: Konkret noch nicht, aber die Folgen der Pandemie werden noch stark zu spüren sein. Die Steuereinnahmen wie Sozialversicherungsabgaben werden sinken und wir werden mehr Sozialleistungen sehen. In einer solch angespannten Situation müssen wir in der Altersvorsorge besonders vorsichtig agieren. 


Stöckli: Weil wir nicht wissen, wie sich die Situation weiterentwickelt, tun wir gut daran, eine gerechte BVG-Revision zu machen, die den Leuten weiterhin ein Ersatzeinkommen sichert. Die Corona-Pandemie zeigt, wir brauchen einen starken Staat mit guten Lösungen. Es wird mehr Fürsorgeempfänger und Arbeitslose geben, aber das wird sich auf unsere Altersvorsorge erst verzögert auswirken. Aber schon heute zeichnet sich ab, dass die Pandemie die Digitalisierung der Arbeitswelt stark beschleunigt hat. Damit werden mittelfristig auch die Vorsorgeberechnungsgrundlagen beeinträchtigt werden.



In zahlreichen echo-Interviews forderten Gesprächspartner aus der Wirtschaft von der Politik endlich Taten. Was fordern Sie umgekehrt von den Pensionskassen?

Stöckli: Sie müssen vermehrt über ihr eigenes Gärtchen hinausschauen und helfen, auch in der 2. Säule eine gewisse Solidarität entstehen zu lassen. Ausserdem sollten sie erkennen, dass die Erwartungen von der Politik, nämlich das Herabsetzen des Umwandlungssatzes, nicht zum Nulltarif zu haben sind. Der Umwandlungssatz ist ein politisches Pfand, – genauso wie das Rentenalter 64 bei den Frauen. Ein solches Pfand wird nicht ohne Gegenleistung aus der Hand gegeben. 

Humbel: Da sind wir uns einig. Die Vorsorgeeinrichtungen müssen die gesellschaftspolitische Bedeutung sehen und sich hinter gute Lösungen stellen können. Das war im Abstimmungskampf 2017 nicht der Fall. Zudem fordere ich, dass der obligatorische Teil der 2. Säule im Rentenfall als Rente bezogen werden muss und nicht als Kapital bezogen werden darf. Heute schwatzen viele Einrichtungen ihren Kunden im Rentenalter das Kapital auf und stehlen sich so aus der Verantwortung.  

*STAF - Bundesgesetz über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung, das im Mai 2019 von der Stimmbevölkerung gutgeheissen wurde und am 1. Januar 2020 in Kraft trat.

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Zur Person
Hans Stöckli
Ständerat, SP, BE

Mitglied der SP und Rechtsanwalt, vertritt den Kanton Bern seit 2011 im Ständerat, dessen Präsident er 2020 war. Er ist Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit. Von 1990 bis 2010 war er Stadtpräsident von Biel. Stöckli, Jahrgang 1957, lebt in Biel, ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern.
Zur Person
Ruth Humbel
Nationalrätin, CVP, AG

Mitglied der Die Mitte, ist seit 2003 für den Kanton Aargau im Nationalrat. Aktuell präsidiert sie die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. Die Juristin wohnt in Birmenstorf und war von 1981 bis 2003 für die CVP im Grossen Rat des Kantons Aargau. Humbel, Jahrgang 1957, ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern.

echo-Interview mit Hans Stöckli und Ruth Humbel

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